Peter Hahne · Meer und Medien

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aus PALSTEK 2/97

Schiff im Schiff

Der deutsche Bootsbau hat nicht eben den Ruf einer Hightech-Branche. Tatsächlich wird hierzulande wenig in wissenschaftliche Yachtentwicklung investiert.
Ein vom Bundesforschungsministerium gefördertes Projekt soll Abhilfe schaffen.

"Bitte jetzt nicht mehr bewegen!" Eine heisere Hupe bellt Achtung, dann setzt sich das gewaltige Schleppgestell fast lautlos in Bewegung. Schnell ist die Geschwindigkeit erreicht, die der Ingenieur im Messband vorgegeben hat: Mit 5,59 Knoten Fahrt, einer Krängung um zwölf Grad und mit einer Abdrift von fünf Grad wird das Yachtmodell in diesem Versuch geschleppt. Messsonden registrieren die Kräfte und Momente, die an Rumpf, Kiel und Ruder auftreten, melden sie weiter an einen Rechner im Messstand, der die Ergebnisse auswertet und in Diagramme überträgt.

Ich bin zu Gast in der Schiffsbauversuchsanstalt (SVA) Potsdam und erlebe einen von zahlreichen Schleppversuchen in einem ungewöhnlichen Forschungsvorhaben. Was da durchs Wasser gezogen wird, ist nicht etwa der Hightech-Rumpf einer neue entwickelten Superyacht; es ist das Modell eines Serienschiffes, einer Dehler 33, im Maßstab eins zu zwei.Hartmut Brandt, Professor am Institut für Schiffs- und Meerestechnik der technischen Universität Berlin, selbst passionierter Segler und Leiter des Forschungsprojektes erklärt:

"Wenn wir eine neue, leistungsstarke Yacht entwickeln, gehen wir stets den gleichen Weg: Es wird ein Entwurf gezeichnet, seine aero- und hydrodynamischen Eigenschaften werden mit Hilfe von Rechenmodellen im Computer simuliertlm Falle von Hochleistungsyachten baut man dann häufig noch Modelle und testet sie im Schleppkanal. Mit den Ergebnissen wird das Modell solange überarbeitet, bis man glaubt, die gewünschten Eigenschaften erreicht zu haben. Jetzt erst wird die endgültige Yacht konstruiert, gebaut und in der Praxis erprobt.
Wir gehen diesen Weg nun andersherum: Gegenstand unserer Untersuchungen ist eine bereits in Serie gebaute und praxisbewährte moderne Fahrtenyacht, die Dehler 33, deren Modell Sie hier sehen. Wir berechnen diese Yacht und testen ein Modell im Schleppversuch. Der Clou ist: Das Schiff, mit dem wir dann unsere Ergebnisse in Natura überprüfen, wird aussehen wie eine Dehler 33, in Wirklichkeit aber ein hochkomplexes Messinstrument sein. 'Segeldynamometer' heißt dieses Messsystem, das der Entwicklung der deutschen Yachtbranche neue Impulse geben soll. Damit wird es erstmals möglich sein, auf einer segelnden Yacht die aerodynamischen Kräfte, die auf das Rigg wirken und die hydrodynamischen Kräfte auf Rumpf, Kiel und Ruder voneinander getrennt zu messen."

Brand weiter: "Wenn Sie eine neue Yacht entwickelt, am Computer berechnet und im Schlepptank getestet haben, hoffen Sie, ein Schiff mit der gewünschten Leistungsfähigkeit bauen zu Können.
Segelt dieses Schiff dann wirklich schnell, dürfen Sie sich freuen. Sie wissen aber im Grunde nicht, warum es schnell ist. Ist der Rumpf gut und bietet nur wenig Widerstand? Oder ist das Rigg effektiv und liefert viel Vortrieb? Oder - das wäre optimal - sind die hydro- und die aerodynamischen Verhältnisse gleichermaßen günstig?
Schlimmer noch tappen Sie im Dunkeln, wenn das Schiff Ihre Erwartungen nichterfüllt. Ist es langsam, weil das Rigg nicht genug Vortrieb leistet oder weil der Rumpf zuviel Widerstand bietet? Die Ergebnisse von Modellversuchen im Windkanal oder im Schlepptank lassen sich nur bedingt auf die Wirklichkeit übertragen. Außerdem können Sie hier zwar Aerodynamik und Hydrodynamik voneinander trennen, dann aber Wechselwirkungseffekte zwischen den Kräften nicht berücksichtigen. Wo also wollen Sie mit der Optimierung Ihres Bootes ansetzen?"

Brandt weist auf den Rechner, über dessen Bildschirm die Zahlen des letzten Schleppversuches flimmern.

"Es existieren heute umfangreiche Rechenverfahren, mit denen Widerstand, Vortrieb und viele andere Komponenten ermittelt werden können. Mit Hilfe so genannter "Velocity Prediction Programme" (VPP) können wir Segelleistungskurven erstellen.
Die herkömmlichen VPP-Rechenmodelle liefern aber nur ein mehr oder weniger grobes Bild der Wirklichkeit. Berechnungen nach Navier-Stokes, mit denen man Druckkräfte und die Geschwindigkeitsverteilung an Rumpf, Kiel und Ruder mathematisch bestimmen kann, sind in diesen Programmen nicht enthalten. Sie wären aber heute - wenn auch auf Grund des hohen Rechenaufwandes noch eingeschränkt - durchführbar. Ein Beispiel: Wollte man die Navier-Stokes-Gleichung für eine Yacht komplett rechnen, müsste man ein nichtlineares Gleichungssystern mit bis zu drei Millionen Unbekannten bewältigen. Die leistungsfähigsten Rechner, die heute auf dem Markt sind, wären zwei bis drei Tage mit dieser Aufgabe beschäftigt. Nun müssen noch verschiedene Segelzustände berücksichtigt werden, das heißt, diese Rechnung wäre vielleicht zehnmal zu wiederholen. Einen solchen zeitlichen Aufwand kann kein Konstrukteur - dessen Workstation zudem wesentlich langsamer arbeiten wird als unsere Rechner- betreiben. Wir müssen also die Genauigkeit unserer Rechenmodelle so weit herabsetzen, dass wir in einem überschaubaren zeitlichen Rahmen zu Resultaten kommen.
Um die Genauigkeit und Treffsicherheit der Modelle wieder zu verbessern, müssen wir rechnerische Ergebnisse mit Werten vergleichen können, die wir in der Wirklichkeit, auf einem segelnden Schiff gewonnen haben. Diese Werte waren bislang aber fragwürdig, weil wir zwar messen, ob ein Boot schnell ist, Vortrieb und Widerstand aber nicht getrennt voneinander erfassen können."

Ein Dynamometer ist ein Instrument zum Messen von Kräften. So auch das Segeldynamometer. Äußerlich wird es sich allerdings kaum von einer Segelyacht, genauer von einer Dehler 33 unterscheiden, und es wird auch so segeln. Im Inneren dieser 'Yacht' ist ein Rahmen installiert, der das Rigg mit stehendem und laufendem Gut und all seinen anderen Komponenten trägt. Das Segeldynamometer ist also ein Schiff im Schiff. Der innere Rahmen ist nicht starr mit dem Rumpf verbunden - stehendes und laufendes Gut werden durch Aussparungen im Deckgeführt-, sondern über eine leistungsfähige Waage. Die misst an sechs definierten Stellen in allen drei Raumrichtungen Kräfte und Momente, die vom Rigg auf den Rumpf übertragen werden.

Darüber hinaus werden an Stagen und Wanten Riggkräfte gemessen. Mit Hilfe von Dehnungsmessstreifen können Kräfte an der Ruderwelle bestimmt werden. Eine Art 'Laser-Logge' gibt präzise Auskunft über Geschwindigkeit und Abdrift. Und mit Hilfe eines faseroptischen Referenzsystemes, wie es in Flugzeugen eingesetzt wird, kann die Lage des Schiffes in allen drei Dimensionen festgestellt werden.

Segelt ein Boot mit gleichbleibender Geschwindigkeit, besteht zwischen den aerodynamischen und den hydrodynamischen Kräften ein Gleichgewicht. Im Segeldynamometer können auf jedem Kurs zum Wind die Vortriebs-, die Widerstands- und die Querkräfte, aber auch zum Beispiel die Trimmkräfte gemessen werden.

Ganz neu ist die Idee eines solchen Schiffes im Schiff nicht. Der amerikanische Konstrukteur J. Milgram vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) hat ein ähnliches System Anfang der neunziger Jahre eingesetzt, um die Segel von America's Cuppern zu optimieren. Während sich Milgram aber auf die Aerodynamik beschränkt hat, wollen die deutschen Forscher um Professor Brandt zunächst die Hydrodynamik, also die Kräfte an und unterhalb der Wasserlinie untersuchen.

Unterstützt werden die Wissenschaftler in ihrem Vorhaben nicht nur vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technik, sondern auch von namhaften Firmen und Institutionen der Segelbranche. Ganz offensichtlich besteht hier ein Bedarf, die wissenschaftliche Forschung zur Verbesserung von Segelschiffen zu intensivieren.

"Deutschland hat, was den Bootsbau angeht, die Entwicklung der letzten Jahre verschlafen", stellt hierzu Professor Wolfgang Meyer von der TU Harburg in einer Studie zum gegenwärtigen Stand der deutschen Bootsindustrie fest.

Er weist nach, dass in Deutschland der Import von Yachten den Export weit übersteigt. Gleichzeitig ist die deutsche Bootswirtschaft in zunehmendem Masse vom Export abhängig, da der heimische Markt langsam aber sicher einzubrechen droht: Nur etwa 30 Prozent der in Deutschland segelnden Yachten wurden von deutschen Bootsbauern hergestellt. Als eine der Ursachen benennt Meyer den Umstand, dass deutsche Yachten, was Technologie und Qualität betrifft - zumindest im Bewusstsein der Käufer -, nicht gerade zu den Spitzenprodukten zählen. Beteiligungen oder gar spektakuläre Siege in den ganz großen Regatten, wie dem America's Cup oder dem Whitbread Round the World fehlen.

"Es ist nun einmal so: Regattaerfolge ziehen auch Verkaufserfolge nach sich", sagt Hartmut Brandt und verweist darauf, dass im westeuropäischen Ausland, in den USA, in Australien und in Neuseeland im letzten Jahrzehnt viel in wissenschaftliche Forschungsarbeiten im Bereich Bootsbau investiert worden ist. "Wir haben in unserem Land einen immensen Nachholbedarf, was Know How oder auch einfach nur das Sammeln von Daten angeht. Auch wenn die Teilnahme an spektakulären Ereignissen, wie dem America's Cup schön wäre, ist es jetzt erst mal ganz wichtig, in aller Stille konzentriert zu arbeiten, um den Wissensvorsprung unserer Kollegen in anderen Ländern einzuholen. Schon geringe Vorsprünge eines Landes auf dem Gebiet der Segeltheorie und Yachtentwicklung sichern bessere Produkte und wirtschaftliche Erfolge."

Aus diesem Grunde hüten einzelne Länder eifersüchtig die Forschungsergebnisse in der nationalen Yachtentwicklung: So ist bekannt, dass auch in Finnland Anfang der neunziger Jahre Untersuchungen an einem Segeldynamometer durchgeführt worden sind. Diese Untersuchungen verliefen in strikter Geheimhaltung. Es gab - anders als im Rahmen der amerikanischen Forschungen von Milgram - keinerlei Veröffentlichungen. Resultate ihrer Versuche haben die Finnen - nicht eben im Sinne des oft beschworenen europäischen Geistes - alleine verwertet.

Viele Faktoren bestimmen die Güte eines Segelschiffes. Die wichtigste Rolle haben aber schon immer die Geschwindigkeit und ein möglichst effektiver Antrieb gespielt. Eine Yacht, die schnell und hoch am Wind segeln kann, ist auch für Fahrtensegler interessant: Sie ermöglicht, selbst mit begrenztem Zeitbudget noch fernere Häfen anzulaufen. Außerdem bietet sie, wie Untersuchungen über Schwerwettersegeln ergeben haben, tatsächlich so etwas wie aktive Sicherheit.

Die allein auf den überlieferten Erfahrungen der Bootsbauer beruhende Produktion von Schiffen, die über Jahrtausende hinweg zu beachtlichen Ergebnissen geführt hat, ist schon lange an ihre Grenzen gestoßen. Wissenschaftliche Forschung hat die Leistungsfähigkeit von Segelyachten in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren fraglos verbessert. Aber wie weit kann man die Optimierung der Boote noch treiben?

"Zu verbessern gibt es immer etwas", meint Hartmut Brandt dazu. "Wir wissen, dass wir noch bis zu 20 Prozentmehr Leistung erreichen können. Denkbar wären zum Beispiel Yachten, deren Kiele ohne Anstellung Auftrieb erzeugen. Solche Yachten würden gänzlich ohne Abdrift - die jetzt im Durchschnitt zwischen drei und fünf Grad beträgt - segeln. Weiterhin sind Boote mit Profilsegeln, die mit fünfzehn Grad am Wind laufen, ohne weiteres realistisch.
Und die sogenannte Rumpfgeschwindigkeit mit dem Faktor 2,3 (mal Wurzel aus der Wasserlinienlänge) ist schon heute keine Schallgrenze für Verdrängerboote mehr. Moderne Mehrrumpfboote erreichen mit ihren schmalen und widerstandsarmen Rümpfen in reiner Verdrängerfahrt Geschwindigkeiten, die erheblich über der Rumpfgeschwindigkeit liegen."

Das Forschungsprojekt Segeldynamometer ist auf drei Jahre begrenzt. In dieser Zeit lassen sich auch in der Beschränkung auf die Hydrodynamik nicht alle anstehenden Fragen beantworten. Ist das Projekt aber erfolgreich, werden andere folgen. Dem Image des deutschen Bootsbaues wird das sicherlich zu Gute kommen. Und vielleicht werden hierzulande eines Tages auch wieder richtig aufregende Boote gebaut.

Hat sich Professor Brandt denn nun mit Leib und Seele der Yachtentwicklung verschrieben? Der Schiffstechniker und Hochschullehrer lächelt: "Solch ein anspruchsvolles Forschungsvorhaben, das nur im Team möglich ist, bedeutet natürlich eine hoch interessante Herausforderung, zumal ich selbst Segler bin. Aber ich habe nebenbei ja auch noch einen Beruf."

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